Sind die 450-cm³-Werksbikes der MXGP – der Königsklasse der FIM-Motocross-Weltmeisterschaft – auf dem Weg, zu schnell zu werden? Wir haben es gewagt, nachzufragen…
@ Ray Archer
Die ungeschminkte Wahrheit ist, dass der Motocross-Sport brutal und unerbittlich ist. Red Bull KTM hat die Extreme des Sports nach nur zehn Monaten zu spüren bekommen. Im September 2018 hatte Jeffrey Herlings den neunmaligen Weltmeister Tony Cairoli besiegt und sich die MXGP-Krone geholt, nachdem die Paarung bis auf eines alle Rennen der Saison gewonnen hatte. Wir schreiben Juni 2019: Sowohl der Niederländer als auch der Sizilianer laborieren an bösen Verletzungen und die Werksmannschaft muss mehr als die Hälfte der Saison ohne ihre Superstars auskommen.
Für die gesamte MXGP war 2019 ein turbulentes Jahr. Mindestens drei der fünf Werksteams dieser dynamischen und aufregenden Kategorie des Motorsports mussten ihre Träume vom Gewinn der FIM-Weltmeisterschaft aufgrund von Operationen begraben.
Die Länge der Liste an Verletzungen (ein Problem, mit dem auch die AMA Supercross-Serie zu kämpfen hat) und die Tatsache, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit in der MXGP beim russischen GP von Orlyonok auf 62 km/h angewachsen ist (ein weiteres halbes Dutzend Rennen verzeichnen Durchschnittsgeschwindigkeiten von um die 60 km/h, während 50-55 die Norm ist), haben die alte Debatte wieder angeheizt, ob die 450-cm³-Motorräder der Königsklasse schlicht zu stark und zu schnell sind.
Wie bei den meisten sensiblen und spekulativen Diskussionen im Spitzensport gibt es keine eindeutige Antwort. Die Motorrad-Technik hat sich zweifellos weiterentwickelt, seit die ersten 4-Takter Mitte des letzten Jahrzehnts das Ruder übernahmen. Das gilt aber auch für die Fähigkeiten und die Technik der Fahrer. Unzählige Kommentare widmen sich der Streckenaufbereitung, obwohl bereits viele Versuche unternommen wurden, die Kurse mit Hilfe von engeren Kurven, Sprüngen und Hindernissen langsamer zu machen. Andere Insider im Fahrerlager meinen, dass auch die Qualität der Federungskomponenten eine Rolle spielt, lässt diese doch selbst im vielfältigen Terrain der MXGP Vollgas-Attacken zu, die in zwanzig Grand-Prix-Rennen, vierzig Motos und sechzig Einzelläufen (die Qualifikations-Läufe mitgerechnet) dann ihren Tribut fordern.
@ Ray Archer
Bekanntlich gewann KTM seine erste MXGP-Krone mit Tony Cairoli am Lenker einer innovativen KTM 350 SX-F, die er zwischen 2010 und 2014 fuhr. Dieses Motorrad wurde als Antwort auf die explosiven und unhandlichen 450er entwickelt, wurde aber schnell überflüssig, als Maschinen wie die KTM 450 SX-F kompakter und kontrollierbarer wurden. Tatsächlich wurde sie beinahe so schlank wie ihre jüngere Schwester, die KTM 250 SX-F, hatte aber eine viel bessere Performance. Cairoli nimmt an, dass die aktuelle Version der 250er (die von seinem Protegé Jorge Prado gefahren wird) beinahe so stark ist wie seine alte 350er.
Um einen besseren Eindruck der Verhältnisse zu bekommen, fragten wir Tony (der seine neun Titel zwischen 2005 und 2017 auf 250ern, 350er und 450ern sammelte), den Manager und technischen Koordinator des Red Bull KTM Factory Racing MX2-Teams, Dirk Grübel, sowie den Service Manager von WP Suspension Racing, Wilfred Van Mil, nach ihrer Meinung. Sind die Bikes wirklich zu schnell? Und wenn ja, was kann getan werden?
Der Status Quo Tony Cairoli: „Wenn du in der MXGP fährst, hast du nicht das Gefühl, dass du keine Kontrolle über das Bike hast oder dass es zu schnell ist. Wenn du dir die Rennen aber vom Streckenrand ansiehst, fällt auf, wie stark diese Bikes sind. Du darfst keine Fehler machen und musst extrem schnell auf Situationen reagieren … und manchmal geht sich das eben nicht aus.“
Dirk Grübel: „Ich glaube, dass die Durchschnittsgeschwindigkeiten zu hoch sind. Wir müssen uns ansehen, wie wir die verringern können, da wir die Entwicklung der Bikes unmöglich aufhalten können: Die Rahmen und Federung haben sich weiterentwickelt und insgesamt sind die Bikes heute zu viel höheren Geschwindigkeiten fähig. Die Frage ist, wie man sie einbremsen kann. Das geht einfach nicht, wenn wir mit 450er, 250er, 300ern fahren … Jorge Prado ist bei vielen Grand-Prix-Rennen der schnellste Fahrer – und das auf einer 250er. Die Aufgabe des Teams ist, das Bike ‚schneller‘ zu machen. Momentan gibt es keine generelle Lösung.“
Wilfred Van Mil: „Fahrer lernen voneinander. Dann kommen ungemein talentierte Jungs wie Tony und Jeffrey und zwingen die anderen, ihren Stil zu kopieren. Der Fahrstil heute unterscheidet sich generell stark von dem der Fahrer von vor fünfzehn Jahren. Alle jungen Fahrer schauen zu den Stars auf und versuchen, sie zu kopieren.“
Dirk Gruebel @ Ray Archer
Dirk Grübel: „Wir könnten aus den 450ern noch viel mehr Power herausholen, als die Fahrer tatsächlich umsetzen können. Wir sind da noch nicht am Ende. Wenn sie fünf PS mehr wollen, können wir ihnen die geben. Das ist aber schlicht und einfach nicht notwendig. Die 250er haben zwar ca. zehn PS weniger, sind aber auf der Strecke genauso schnell. Es geht also nicht um die PS, sondern darum, wie die Fahrer diese umsetzen und das letzte bisschen Leistung herauskitzeln. Der Gewichtsunterschied zwischen unserer 450er und unserer 250er beträgt zwei Kilogramm, nicht mehr. Das ist nicht gerade viel.“
Tony Cairoli: „Die Federung ist heute viel besser als noch vor einigen Jahren und die Bikes sind so einfach zu fahren. Wenn ich in Rom oder Sizilien bin, sehe ich mir oft Amateur-Rennen an und alle fahren selbst dort extrem schnell, obwohl sie vielleicht zweimal im Monat antreten! Alle Bikes haben viel Power, es ist aber die Federung, die dir erlaubt, verrückte Sachen aufzuführen.“
Dirk Grübel: „Im Bereich der Federung wurde viel Entwicklungsarbeit geleistet und unsere Fahrer fürchten sich nicht mehr vor Sprüngen: Heute nehmen sie diese mit links, weil sie wissen, dass die Technik die Kräfte absorbieren wird und sie nicht runterfallen werden. Joel [Smets] und ich sprachen kürzlich über den Doppelsprung am Fuß des Hügels auf der Rennstrecke von Loket [Grand Prix der Tschechischen Republik]. Früher, so meinte er, wärst du aus der Kurve gekommen, hättest etwas Gas gegeben, dann den Gasdrehgriff geschlossen und vor dem Abheben wieder etwas Gas gegeben, um den Sprung zu meistern. Heute nehmen die Fahrer zu keinem Zeitpunkt Gas zurück. Die Geschwindigkeiten sind ein Resultat des Fahrkönnens, der Federung und besserer Vorbereitung.“
Wilfred Van Mil: „Die Federung entwickelt sich kontinuierlich weiter. Es sind keine großen Schritte, sondern immer kleine Verbesserungen. In Kombination mit dem Rahmen und dem Handling ergeben sie aber ein leistungsfähiges Paket. Wir können den Fahrern so viel Komfort wie möglich bieten und das hilft ihnen, immer schneller zu werden. Wir machen jedes Jahr kleine Schritte nach vorne. Es ist die Aufgabe des gesamten Teams, ihre Fahrer schneller zu machen. Und daran arbeiten viele Leute.“
Dirk Grübel: „Es geht hauptsächlich um die Fahrbarkeit. Man versucht immer, die Rundenzeiten zu drücken. Wir haben unsere Referenz-Strecken, auf denen wir im Winter testen, und wenn du mit einer Verbesserung eine halbe oder ganze Sekunde pro Runde gutmachen kannst, hast du gute Arbeit geleistet. Und das kann nicht aufhören! Alle tun dasselbe, das ist unser Job. Du musst die Power auf den Boden bringen, sie muss aber auch gleichmäßig abgeliefert werden, damit der Fahrer beim Gasgeben nicht zögern oder ihm zu viel Aufmerksamkeit widmen muss. Je weniger er sich auf das Bike und je mehr er sich auf das Fahren konzentrieren kann, desto schneller wird er sein.“
Jeffrey Herlings @ Ray Archer
Gibt es eine Lösung? Tony Cairoli: „Ich glaube, dass es keine schlechte Idee ist, die Leistung der Bikes zu reduzieren. Die 450er sind auf einem extrem hohen Niveau und zu schnell für unsere engen und schmalen Strecken hier in Europa – mit Ausnahme von der in Russland, die sehr schnell ist. Außerdem trocknen diese schnell aus und werden extrem hart. Auch die 250-cm³-Klasse ist in der Weltmeisterschaft momentan sehr stark – die Power der Bikes ist beinahe mit der meiner alten 350er vergleichbar. Die Power in der MXGP zu reduzieren, wäre also keine schlechte Idee, und die Zahl der Verletzungen würde runtergehen.“
Wilfred Van Mil: „Früher oder später werden wir den Hubraum verringern müssen. Wenn die Entwicklung so weitergeht wie in den letzten zehn Jahren, haben wir bald 250er, die stärker als die aktuellen 450er sind. Und du kannst keinen Sechzehnjährigen auf so ein Bike setzen – das wäre das Ende des Sports.“
Tony Cairoli: „Die 450er sind heute so stark. Ich denke, dass es eine gute Idee ist, deren Leistung zu begrenzen.“
Dirk Grübel: „Ich glaube nicht, dass eine Hubraumverringerung die Lösung ist. Selbst wenn die FIM uns sagen würde, dass wir in der MXGP im nächsten Jahr auf 300 cm³ runtergehen, würden wir trotzdem alles versuchen, um die Schnellsten zu sein und wären bald wieder auf dem Niveau der aktuellen 450er.“
Wilfred Van Mil: „Bei der Federungsentwicklung geht es um viel Engineering und neue Technologien wie unterschiedliche Kolben, Formen, Überlappungen und am Ende macht sie einen großen Unterschied. Natürlich kann man mit der Federung nicht alle Probleme lösen; auch der Rahmen und die Motorcharakteristik müssen passen. In vielen unserer Tests haben Änderungen der Motorcharakteristik auch Änderungen an der Federung zur Folge. Die aktuelle 250er hat genauso viel Power wie eine 450er von 2004.“
Tony Cairoli @ Ray Archer
Dirk Grübel: „Meiner Meinung nach lässt sich das Speed-Problem nicht mit dem Bike alleine lösen. Wir müssen die Durchschnittsgeschwindigkeiten verringern und das müssen wir irgendwie mit dem Streckendesign hinbekommen. Jeffrey gab einmal zu Protokoll, dass du in den USA an einem Sonntag nicht wie bei den GPs Vollgas geben kannst, da die Strecke noch unberührt ist und die Linien zu tief sind: Wenn du da Vollgas gibst, liegst du schnell auf der Nase. Die Fahrer wissen und respektieren das, weil sie gewarnt werden. [Weitere] Sprünge schaffen auch keine Abhilfe, weil die Fahrer sie mit Vollgas nehmen. Wir müssen uns das Kurvendesign ansehen oder schwierigere Kurven herstellen, die nicht so schnell durchfahren werden können. Das muss getestet werden.“
Tony Cairoli: „Es geht hauptsächlich um den Untergrund. Dieser muss gut beschaffen sein und viele Schläge haben. Das würde die Geschwindigkeiten reduzieren und den Fahrern mehrere Linien zur Auswahl geben. Wenn du heute auf einer Strecke wie der in Russland oder der Tschechischen Republik fährst, musst du beim Überholen extrem aggressiv und schnell sein [was weniger Raum für Fehler lässt].“
Wilfred Van Mil: „Egal, ob wir auf kompakter Erde oder Sand fahren – wir nehmen keine gravierenden Änderungen am Setup vor; es geht eher um die Balance und ein paar Klicks – manchmal nicht einmal das. Wir leisten viel Testarbeit – das ist im Winter unsere Hauptaufgabe – und am Ende haben wir ein Basis-Setup, das mehr oder weniger bei allen GPs funktioniert. Jedes Wochenende spielen wir uns dann etwas mit der Höhe der Gabel oder dem Durchhang und anderen kleinen Details. Die Tatsache, dass Fahrer jede Woche mit demselben Bike unterwegs sind, macht sie noch schneller. Früher gab es zwischen den einzelnen Strecken massive Unterschiede im Setup und die Fahrer mussten sich erst wieder an das Bike gewöhnen und ein Gefühl dafür bekommen. Heute ist das Basis-Setup um so viel besser, dass sie immer sicherer werden.“
Tony Cairoli: „Breitere Strecken mit mehreren möglichen Linien und mehr Schlägen würde die Rennen sicherer machen, da das die Geschwindigkeiten reduzieren und den körperlichen Aspekt erhöhen würde. Die Fahrer würden stärker ermüden und die Schnellsten wären die, die am härtesten trainieren. Auf Strecken, die so flach sind wie heute, siehst du diese Unterschiede nicht so wie früher.“
@ Ray Archer
Bilder: Ray Archer/KTM
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