Während die MXGP-Saison in Europa in vollem Gange ist, befragten wir Giuseppe Chiodi, Physiotherapeut des Red Bull KTM Factory Racing Teams, zu seiner Arbeit bei den Rennen und dem größten Problem, mit dem Fahrer wie Cairoli, Prado, Herlings und Co zu kämpfen haben …
Der ehemalige Sprinter Giuseppe Chiodi grüßt jeden mit einem Lächeln. Vielleicht liegt es daran, dass die meisten seiner MXGP-Patienten der KTM-Familie das Gesicht verziehen, wenn sie zu ihm kommen. Der 50 Jährige ist seit fünf Jahren Teil des Fahrerlagers, davon drei im KTM-Werksteam und ist dort der Anlaufpunkt für die orangen Athleten bei physischen Problemen.
Als ehemaliger Soprtler hat Giuseppe eine Statur und Physis, mit der er auf den ersten Blick leicht einen der 30-minütigen und zwei Runden dauernden MX-Läufe gegen die weltweit Besten bestreiten könnte; heute nippen wir aber beide an unserem Cappuccino, während wir mit dem Italiener über seine Arbeit in den vielbeschäftigten 48 Stunden eines Grand-Prix-Wochenendes sprechen, die sich im Laufe der MXGP-Saison von Februar bis September neunzehnmal wiederholen und 37 Läufe umfassen.
Giuseppe Chiodi (ITA) behandelt Glenn Coldenhoff (NED) während des GP von Suphan Buri (THA) in der Saison 2016
Chiodi ist ein smarter Typ. Dank seiner eigenen sportlichen Erfahrungen und seinen Ideen zur Behandlung des Körpers, ist er viel gereist und konnte immer tiefere Einblicke in das menschliche Befinden sammeln. Durch Untersuchungen und Beobachtungen im Motocross, Tennis und in der Leichtathletik entwickelte er in Zusammenarbeit mit zwei Universitäten in Rom neue Trainings- und Behandlungsmethoden, darunter auch eine, um die Lebensqualität von Menschen, die an neurodegenerativen Erkrankungen wie Multiple Sklerose erkrankt sind, zu verbessern. „Das System beruht auf der Behandlung des Menschen, nicht auf der Behandlung der Krankheit“, erklärt er. „Jeder Mensch hat spezifische Bedürfnisse … und die Ergebnisse sind großartig. Die Universitäten erarbeiten ein wissenschaftliches Protokoll, um zu demonstrieren, dass die Techniken und das Training effektiver sind als traditionelle Methoden für MS-Patienten.“
An diesem Morgen stehen wir aber im sonnenbeschienen Fahrerlager des GP von Pietramurata, um über Motocross zu sprechen. „Gemeinhin werden diese Typen von professionellen Trainern als die Iron Men auf dem Sportplatz betrachtet“, sagt er mit Hilfe eines Dolmetschers. „Sie sind keine normalen Sportler. Sie müssen nicht nur ihren Körper, sondern auch das Bike kontrollieren. Das bedeutet eine andere Art der Vorbereitung, denn man muss sich auf den eigenen Körper fokussieren, aber auch die Herausforderung bewältigen, 100 Kilo um teilweise schwierige Strecken zu bewegen.“
Motocross ist hart, anspruchsvoll und herausfordernd: vielleicht der härteste Motorsport auf zwei Rädern, einfach wegen der Intensität. Der MXGP-Paddock hat ein eindrucksvolles medizinisches Zentrum und Röntgentechnik bei jedem europäischen Rennen, um die schwerwiegendsten Verletzungen zu behandeln – Brüche, Frakturen und Wunden –, aber was beansprucht Giuseppes Expertise und Zeit im KTM-Team am meisten?
Jorge Prado (ESP) KTM 250 SX-F Pietramurata (ITA) 2017
„Die typischen Verletzungen sind tendenziell muskulär und glücklicherweise sind die meisten nicht problematisch, so dass sie sich mit einer Behandlungseinheit lösen lassen“, erklärt er. „Was wirklich wichtig ist, ist das sofortige Eingreifen, andernfalls kann der Muskel bis zu 50% seiner Kraft und Effizienz verlieren. Am Kritischsten ist die Zeit zwischen dem ersten und zweiten Lauf; man muss umgehend reagieren, zum Beispiel mit tiefgehenden lokalen Massagen, um den Muskel zu dehnen. Zusätzlich kann man mit Kinesiotaping – das nutze ich häufig bei den KTM-Fahrern – und generellen Massagen arbeiten, um den Körper neu einzustellen und wieder ins Gleichgewicht zu bringen.“
Es ist schwer, die Zahl der Schläge, Dehnungen und Belastungen zu schätzen, denen ein MX-Pilot ausgesetzt ist, aber was uns neugierig macht, ist Giuseppes ganzheitliche Sichtweise. „Der Körper ist ein Gesamtsystem und wenn man in einem Teil ein Problem oder eine Verletzung hat, dann muss man zunächst lokal darauf reagieren, aber anschließend muss auch alles andere wieder in Balance gebracht werden, um in guter Form zu sein und maximale Leistung abrufen zu können.“
Chiodi hebt sich durch seine Behandlungsmethoden, die in den letzten fünf Jahren im MXGP-Paddock immer populärer geworden sind, von anderen Physiotherapeuten ab. „Taping ist in der Leichtathletik seit mehr als 15 Jahren sehr beliebt und daher habe ich meine Erfahrungen aus der Leichtathletik in den Motocross-Sport übertragen. Taping kann hier sehr effektiv eingesetzt werden, denn es beeinflusst den Aufprall, die Bewegung und auch die Muskelkontraktion. Als ich in Fernost gereist bin, habe ich neue Techniken gelernt und hatte Zugang zu neuen Materialien.“
Kinesiotape
Durch Kinesio und der ursprünglichen Theorie, entwickelt von Dr. Kenzo Kase in den 1970er Jahren, können die KTM-Athleten nun mit teils merkwürdigen und aber auch schönen Tapebändern über ihren Gelenken gesehen werden. „Das Tape hat verschiedene Effekte, denn es gibt welche mit Kleber und ohne und die Intervalle bewirken eine Art ‘Puls’ auf das Nervensystem, der bis zu 24 Stunden andauern kann“, beschreibt er die Wirkung des Tapes. „Du kannst das Tape auf verschiedene Weise nutzen, zum Beispiel, um die Muskeln zu dehnen und eine Muskelkontraktion zu verhindern. Das Tape entwickelt sich immer weiter; es gibt mittlerweile Materialien, die sich dehnen und in eine Richtung bewegen, aber nicht in eine andere und das ist besonders hilfreich, wenn, sagen wir, der Fahrer eine Knöchelverletzung hat, sich aber dennoch begrenzt bewegen muss, um zu bremsen und zu schalten, so dass sie zumindest in der Lage sind, das Rennen zu fahren.“
Chiodi hat seine Fähigkeiten und Überzeugungen noch tiefer in den Sport eingebracht und eine Lösung für eines der ältesten Probleme im Motocross entdeckt. „Armpump ist ein großes Problem für die Fahrer und in der Vergangenheit hat man sich dabei hauptsächlich auf die Unterarme konzentriert und sehr oft operiert“, erklärt er. „Nach Untersuchungen mit Magnetresonanz und Doppler-Echokardiographie haben wir entdeckt, dass Armpump auf die Haltung des Fahrers zurückzuführen ist. Auf dem Motorrad neigen sie dazu eine Position einzunehmen, in der die Schultern geschlossen sind und das verursacht eine blockierte Zirkulation und Probleme mit den Nerven. Wir haben uns also die oberen Rückenmuskeln angeschaut, um eine bessere und neue Haltung mit geöffneten Schultern zu entwickeln. Das hat dazu beigetragen ihre Gesundheit zu verbessern und half, das Problem mit dem Armpump zu reduzieren. Die gleiche Technik wird auch von der italienischen Föderation angewendet, in der ich Mitglied bin und wo ich trainiere. Mittlerweile wird diese Technik auch in der MotoGP verwendet und dort zeigen sich die gleichen positiven Effekte.“
Schnell aufeinanderfolgende Behandlungseinheiten während eines MXGPs belegen den Erfolg von Giuseppes Herangehensweise und es besteht kein Zweifel, dass er in seiner Rolle zu einem wichtigen Mitglied des Red Bull KTM Factory Racing Teams geworden ist. „Psychologie spielt eine wichtige Rolle … aber grundsätzlich will der Fahrer nur wissen, dass alles ok ist, dann können sie das Geschehene hinter sich lassen und sich auf das Rennen konzentrieren.“
Das Leben eines Fahrers kann durch viele Ereignisse beeinflusst werden, daher ist es für sie von entscheidender Bedeutung zu wissen, dass es gleichermaßen professionelle Mechaniker für das Bike und den Körper gibt.
Fotos: KTM
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